Computerwerkzeuge für den Raumgeometrie-Unterricht
in der Sekundarstufe I
"Wenn unser Unterricht heute darin besteht, daß wir Kindern
Dinge eintrichtern, die in einem oder zwei Jahrzehnten von Rechenmaschinen
erledigt werden, beschwören wir Katastrophen herauf."
Hans Freudenthal, 1973 |
Prof. Dr. I.O. Kerner zum 70. Geburtstag
1. Einleitung
Zu den raumgeometrischen Darstellungsformen: Print-Medien-Darstellung (Zeich-nung auf Papier etc.) und materiale Darstellung (Körpermodelle etc.) tritt deshalb die Computerdarstellung, die uns aber neue Schnittstellenprobleme beschert.
: | Wie verwandeln
wir z.B. einen in einer Zeichnung dargestellten oder als materiales Modell
verfügbaren Körper in ein adäquates digitales Modell?
(Dazu müssen wir i.a. die Ecken des betreffenden Körpers in einem dreidimensionalen Koordinatensystem ausdrücken und gegebenenfalls berechnen. Wenn wir z.B. eine Laserstrahlabtastung eines materialen Objektes als ein in der Schulgeometrie nicht realisierbare Digitalisierungsmethode ansehen.- Wo kommt das 3-dimensionalen Koordinationssystem im Lehrplan der Sekundarstufe I vor?) |
: | Raumgeometrische Bildschirm-Darstellungen lassen sich auf einfache Weise ausdrucken und dokumentieren. |
: | Wie bekommen
wir von einem nur der visuellen Wahrnehmung zugänglichen räumlichen
Objekt auf dem Bildschirm - hier noch nicht die Wahrnehmungsmöglichkeiten
des Cyber-Space in Erwägung ziehend - ein materiales Objekt, das auch
taktil erfaßt werden kann.
(Die derzeit praktikable Lösung besteht in der Generierung von Körpernetzen auf dem Bildschirm, die ausgedruckt und dann zu Flächenmodellen aufgefaltet werden können. Diese Lösung des Schnittstellenproblems bleibt aber auf abwickelbare Körper beschränkt.) |
Raumgeometrische Probleme können wir in einer
herkömmlichen Lernumgebung i.a. nur über die Lösung entsprechender
Probleme der ebenen Geometrie lösen (Diagramm 2; AR steht für
den geometrisierten Anschauungsraum, AE für die geometrisierte Anschauungsebene);
dafür wurden die Methoden der Darstellenden Geometrie entwickelt.
Mit der Computernutzung haben wir die Möglichkeit, raumgeometrische
Konfigurationen auf dem Bildschirm mit virtuell räumlicher Tiefe herzustellen
und darzustellen (Diagramm 3) und diese Konfigurationen (direkt) zu manipulieren,
im Ganzen oder im Zugmodus. Das vereinfacht das Lösen raumgeometrischer
Probleme erheblich und vermeidet den "traditionellen Umweg".
Wir wenden uns deshalb den "Körper-Werkzeugen"
zu, die inhaltlich an den traditionellen Geometrielehrplänen angepaßt
sein müssen, um Akzeptanz bei den Lehrern und Lehrerinnen zu finden.
Bis heute gibt es im deutschen Sprachraum zwei Entwicklungsergebnisse:
Das einfach zu bedienende Werkzeug SCHNITTE gestatten nur das Darstellen,
das schrittweise Schneiden und das Abwickeln konvexer Polyeder; es ist
nur beschränkt direkt manipulativ. Z.B. ließe sich mit ihm die
Zerlegung eines quadratischen Pyramidenstumpfes in Teile, die zu "bekannten"
Körpern zusammengesetzt werden können (vgl. Bildfolge), nicht
bewerkstelligen usw. Es war deshalb notwendig das Werkzeug SCHNITTE weiter
zu entwickeln: Das direkt-manipulative Werkzeug "Körper" verfügt
über alle schulüblichen Grundkörper, die auf vielfältige
Weise visualisiert und bearbeitet werden können. Es wurde u.a. das
Virtual Sphere Device implementierte, das gestattet die Körper mit
der planaren Maus so zu drehen, als hätte man den Körper in der
Hand.
|
Jetzt kann der genannten Umbau des Pyramidenstumpfes vorgenommen wer- den. Dazu verschiebt man entsprechen-de Schnittebenen in den Körper (vergl. nebenstehende Abbildung). Die Schnitte sind im Pyramidenstumpf zu sehen, be-vor dieser direkt-manipulativ in seine Be-standteile zerlegt wird, um anschließend die Teilkörper passend umzugruppieren |
Bilderfolge
Die Nutzung adäquater Computerwerkzeuge zur
Erzeugung raumgeometrischer Objekte (hier: Körperschnitte) eröffnet
die Möglichkeit der Bearbeitung von offenen Aufgabenstellungen, bei
der der Computer als Mittel
Im folgenden listen wir einige solcher Aufgabenstellungen aus dem Wissensbereich "konvexe Körper" auf, die adäquat mit dem Werkzeug SCHNITTE oder dem Werkzeug KÖRPER bearbeitet werden können.
"Schnittflächen am Würfel"
Ein Würfel kann auf verschiedene Weise von einer Ebene geschnitten werden. Untersuche, welche Schnittflächen entstehen und protokolliere deine Ergebnisse und benenne die Flächenformen.
Beschreibe und ordne deine Ergebnisse nach der Eckenanzahl und den Symmetrieeigenschaften der vieleckigen Schnittfläche.
Überlege dir auch, wie die Schnittflächen systematisch herauszufinden sind, so daß du es anderen erklären kannst. - Bloßes "Rumprobieren" läßt sich weder gut erklären noch gut merken!
Lösung der Aufgabe Nr. 1
Dreiecke (nur spitzwinklige):
Gleichseitige Dreiecke (3-fach achsensymmetrisch)
Gleichschenklige Dreiecke (einfach achsensymmetrisch)
Dreiecke (nicht achsensymmetrisch)
Vierecke (wenigstens 2 Seiten parallel):
Trapeze, achsensymmetrisch (gleischenklig)
Trapeze, nicht achsensymmetrisch (nicht gleischsenklig)
Parallelogramme
Rauten
Rechtecke
Quadrat
Fünfecke (immer 2x2 Seiten parallel)
einfach achsensymmetrisch
nicht achsensymmetrisch
Sechsecke (immer 3x2 Seiten parallel)
einfach achsensymmetrisch
2-fach achsensymmetrisch
3-fach achsensymmetrisch
6-fach achsensymmetrisch (regelmäßig)
nur punktsymmetrisch
nicht punktsymmetrisch
Aufgabe Nr. 2
"Schnittkörper des Würfels"
Schneide aus einem Würfel die abgebildeten Körper
heraus, und erzeuge weitere Schnittkörper nach der eigenen Phantasie.
Gib den Schnittkörpern Namen.
Drucke auch Netze dieser Körper aus, schneide
sie aus und falte sie auf.
Aufgabe Nr. 3
"Würfelhalbierungen"
"Würfelpuzzles"
Was ist ein Puzzle?
Einzelteile sind (nach bestimmten Regeln) zu einem Ganzen zusammenzusetzen. Was ist hier ein Ganzes? - Ein Körper, z.B. ein Würfel, ein Tetraeder, eine quadratische Pyramide, ein Quader, ein Zylinder. Wie erhalten wir die Einzelteile? - Dazu zerschneiden wir ein Körpermodell in Teile, aus denen dann der Körper wieder zusammengebaut werden kann. Auf dem Bildschirm können wir das Zerlegen eines Körpers mit dem Werkzeug KÖRPER auf recht beliebige oder auf regelhafte Weise durchführen - ohne Angst vor einem Verschnitt! Allerdings sind unsere Teile immer konvex.
Körperpuzzles können aus mehr oder weniger
Teilen bestehen. Die Teilkörper können 'unregelmäßig'
oder auch 'schön symmetrisch' sein.
1) Zerlege einen Würfel in vier Teilkörper
gleicher Form, die aber keine Würfel sein sollen.
2) Zerlege einen Würfel in fünf unregelmäßige
Teilkörper.
3) Zerlege einen Würfel in sechs symmetrische
Teilkörper.
4) Zerlege ein Tetraeder in zwei gleichförmige
Teile, die keine Pyramiden sind.
5)Lade einen Körper Deiner Wahl und zerlege
diesen nach Deiner Phantasie.
Die Netze der Teilkörper sind auszudrucken, auszuschneiden, zu Flächenmodellen aufzufalten und zusammenzukleben. Jetzt kann das materiale Puzzle ausprobiert werden. Im übrigen: Verfasse Ausschneidebögen für Deine Puzzles.
Aufgabe Nr. 5
"Vom Tetraeder zu den Hexaedern"
1) Lege Schnitte in das Tetraeder so, daß nach Schnittausführung neue Körpertypen entstehen. Welche Typen sind das? Stelle aus den Netzausdrucken Körpermodelle her. Beschreibe die Körper mit ihren jeweiligen Flächen-, Ecken und Kantenanzahlen.
2)
a) Lege Schnitte in eine vierseitige Pyramide so,
daß nach Schnittausführung neue Körpertypen entstehen.
b) Lege Schnitte in einen dreiseitigen Pyramidenstumpf
so, daß nach Schnittausführung neue Körpertypen entstehen.
Drucke die Schrägbilder aller von Dir gefundenen neuen Körpertypen aus. Reicht die Angabe der Flächen-, Ecken- und Kantenzahl noch aus, um die Körpertypen zu beschreiben? Welche Kennzahlen mußt Du noch hinzunehmen?
3) Schneide auf verschiedene Art zwei dreikantige Ecken einer vierseitigen Pyramide ab. Du erhältst Siebenflächner. Lassen sich diese Siebenflächner durch die in Aufgabe 2) dort zur Beschreibung von Körpern ausreichenden Kennzahlen unterscheiden?
Aufgabe Nr. 6
"Von den Platonischen zu Archimedischen Körpern'"
Verwende die Dateien PLATON1 (Tetraeder), PLATON2 (Würfel), PLATON3 (Oktaeder), PLATON4 (Dodekaeder), PLATON5 (Ikosaeder). Verschaffe Dir beim Legen der Schnitte Übersicht, in dem Du Dir Dein Arbeitsfeld durch Vergrößern und Drehen des Körpers entsprechend einrichtest.
1) Kantenhalbierendes Eckenabschneiden
a) Setze auf allen Kanten des Tetraeders, Würfels (Hexaeders), Oktaeders, Dodekaeders und des Ikosaeders den Kantenmittelpunkt. Schneide kantenhalbierend alle Ecken ab. Wie ändert sich die Flächen-, Ecken- und Kantenanzahl des ursprünglichen Körpers?
Drucke die Schrägbilder der neuen Körper aus und falte die Netzausdrucke zu Flächenmodellen auf.
2) Kantendrittelndes Eckenabschneiden
Offene Fragen:
Wie muß sich unter dem Einfluß von Raumgeometrie-Software der heutige Unterricht in Raumgeometrie in der Sekundarstufe I hinsichtlich seiner Zielsetzung, seiner Inhalte und Methoden ändern?
Was kann die (computerrepräsentierte) Raumgeometrie aus der Sicht der Schüler und Schülerinnen der Sekundarstufe I für das Verstehen unserer Welt, für das private Leben und für die berufliche Zukunft leisten?
Der Raumgeometrie-Unterricht könnte z.B. die Verbindung zu den zahlreichen 3D-Computer-Grafik-Anwendungen herstellen, die in Form von ästhetischen Animationen, 3D-Spielen, vielseitigen 3D-CAD-Werkzeugen (z.B. für die Raumplanung) und Virtual-Reality-Anwendungen dem naiven User zunehmend vertraut werden. In diesem Zusammenhang erhebt sich die noch im allgemeinen und im besonderen zu beantwortende Forschungsfrage: Wie kann durch die Benutzung von Raumgeometrie-Software das "Raumvorstellungsvermögen" entwickelt und trainiert werden? Denn Entwicklung und Training des Raumvorstellungsvermögens, einem wesentlichen Intelligenzfaktor, ist eine originäre Aufgabe des Raumgeometrie-Unterrichts!
Ausblick:
Wie könnte das computerunterstützte Lernen von Raumgeometrie in nicht allzu ferner Zukunft aussehen?
Raumgeometrielernen in Virtuellen Wirklichkeiten:
Bei der Nutzung der heutigen Raumgeometrieprogramme bleiben Mensch und Computersystem noch getrennt: Der Mensch kann nur mittelbar mit dem Computer interagieren, indem er z.B. das Grafikeingabegerät 'Maus' bedient; seine kinästhetischen Empfindungen und Erfahrungen sind deshalb sehr eingeschränkt; er läßt Kommandos ausführen und beobachtet das (räumliche) Ergebnis auf einem planaren Bildschirm; die räumliche Interpretation kann allenfalls durch stereografische Darstellungen und die Benutzung einer Rot-Grün-Brille verbessert werden. Die Computergenerierung sogenannter virtueller Wirklichkeiten hebt die Grenzen zwischen den Systemen Mensch und Computer partiell auf: Mittels einer geeigneten Schnittstelle, dem Eye Phone, einer elektronischen Brille, ausgerüstet mit stereografisch arbeitenden Bildschirmen und Stereolautsprechern, aus visueller und akustischer Schnittstelle und einem elektronischen Handschuh (Data Glove) als taktiler Schnittstelle ist es möglich, daß der Mensch die (illusionäre) Empfindung hat, sich in einer simulierten dreidimensionalen Welt (Cyberspace) ganzkörperlich zu bewegen und zu bestätigen, indem er z.B. Operationen an Objekten der virtuellen Realität vornimmt. Obwohl zur Zeit die Personalcomputer sich noch nicht für eine Echtzeit-Verarbeitung der bei solchen Simulationen anfallenden Datenmengen eignen, so ist doch folgendes Szenarium für ein zukünftiges Geometrielernen denkbar: Der Geometrielerner agiert als Cybernaut in einer dreidimensionalen geometrischen Welt der Formen z.B. in einer zum Erforschen von Polyedern. Er geht zwischen den Körpern spazieren, betrachtet diese aus der Frosch- oder der Vogelperspektive, klettert auf den Körpern herum, spürt die spitzen Ecken und die scharfen Kanten, rutscht die glatten Körperflächen herunter, dringt in die Körper ein und betrachtet sie von innen; er bewegt die Körper, baut sie zusammen, entfaltet sie in die Ebene, verändert ihre Größe, deformiert sie nach Belieben und nimmt an ihnen Operationen vor, z.B. Schnittoperationen oder er 'spielt' selbst einen Körper und 'erlebt' z.B. das Rollen desselben usw.
Wie wird eine derart computerrepräsentierte Raumgeometrie das 'Bild' von Geometrie bei den Schülern und Schülerinnen prägen? Wie wird sich ihre Beziehung zu der sie umgebenden nicht virtuellen dreidimensionalen Welt verändern?
5. Literatur
Bauer, H., Freiberger, U., Kühlewind, G., Schumann,
H. (1998): KÖRPER. Zentrastelle für Computer im Unterricht; Augsburg.
KÖRPER erscheint 1999 bei Cornelsen, Berlin
Becker, J. P. & Shimada, S. (1997): "The Open-ended
Approach" -
A New Proposal for Teaching Mathematics. Reston
VA: NCTM
Chen, M. et al. (1988): A Study in Interactive 3-D
Rotation Using 2-D Control
Devices. In: Computer Graphics, v. 22, no. 4, p.121-129
Dörfler, W. (1990): Der Computer als kognitives Werkzeug und kognitives Medium. In: Dörfler, W. et al. (Hrsg.): Computer – Mensch – Mathematik, Teubner:Stuttgart, S.51-75
Quasem, S.; Laborde, J.-M. (1996): La représentation dans un micromonde de la géométrie dans l'espace: Le cas de Cabri-3D (Arbeitspapier des Laboratoire Leibniz, Université Joseph Fourier; Grenoble)
Schumann, H. (1995): Körperschnitte - Raumgeometrie interaktiv mit dem Computer. Dümmlers: Bonn
Schumann, H. (1996): Zum Entwicklungsstand geometrischer Unterrichtssoftware. In: Beiträge zum Mathematikunterricht 1996. Franzbecker; Hildesheim